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Der Beton tanzt

Mercedes-Benz-Museum inszeniert Technikgeschichte

Der Museumsbau ist wie ein moderner Kompaktwagen: außen Silbermetallic mit viel Glas, runde Formen und innen riesig. Sparsame Außenmaße sind notwendig, weil nicht viel Platz ist zwischen den Trainingsplätzen des VfB-Stuttgart, einer Hochstraße und dem DaimlerChrysler-Motorenwerk Untertürkheim. Doch der Bau des holländischen Architekten Ben van Berkel schafft unerwartet viel Raum und erzeugt eine weitläufige Atmosphäre. Spätestens wenn der Besucher die Kasse passiert hat, bleibt er verblüfft stehen. Das Atrium entfaltet eine unerwartete Größe – die lichte Höhe beträgt fast 50 Meter.
Das Museum ist praktisch nur ein einziger Raum, der durch spiralförmige Böden gegliedert ist. Wie durch einen Schweizer Käse fällt der Blick immer wieder quer durch alle Ebenen oder auch nach draußen. Die Besucher steigen im Atrium in einen der drei Aufzüge und sausen in die Höhe. In die Lifte eingebaut sind Beamer, die an die gegenüberliegende Wand Filmsequenzen projizieren. Die Show kann beginnen.
Die Besucher starten ihren Rundgang ganz oben im Gebäude. Es fällt schwer von Stockwerken zu sprechen. Der Statiker, der das Gebäude berechnete, meinte, es bestehe eigentlich nur aus gestapelten Autobahnbrücken.
Die Zeitreise beginnt mit einem ausgestopften Pferd, das auf die Ära der Erfinder einstimmt: Um 1886 tüftelten Gottlieb Daimler und Wilhelm Maybach in Cannstatt sowie Karl Benz in Mannheim gleichzeitig an ihren ersten Motorkutschen. Daimler und Benz kannten sich übrigens nicht. Zeitgenossen fragten Benz bei seinen Probefahrten, was das alles solle, schließlich gäbe es keinen Mangel an Pferden. Und was könne so ein unzuverlässiger, lärmender, armseliger Maschinenwagen nun besser? Die Reise durch Zeit und Raum beginnt also mit einer Pferdestärke.
Der Besucher hat die Wahl zwischen zwei Touren: Mythos oder Collection. Die Mythos-Reise führt chronologisch durch sieben Räume. Dort ist alles wie im Traum. Perfekt wird wie auf einer Bühne Technik in einem dunklen Raum inszeniert. Im Mittelpunkt stehen ausgewählte, für die jeweilige Epoche typische Fahrzeuge – seien es Motorkutschen, Kompressorwagen aus den 20er Jahren oder berühmte Sportwagen wie der 300 SL mit Flügeltüren. Auf diesem Rundgang flaniert man angenehm entspannt auf einer leicht geneigten Ebene immer abwärts Richtung Gegenwart. In die Wände montierte Leuchtkästen zeigen die Ereignisse der Zeit, in der man sich gerade befindet.
Wer sich insbesondere für die Autos interessiert, macht den Rundgang durch die Sammlung. Das Museum ist so groß, dass sogar schwere Lastwagen und Omnibusse gezeigt werden können. Winden an der Decke des Atriums ziehen bis zu 20 Tonnen schwere Nutzlasten in die Höhe. So gelangten die Brummis an ihren Platz in den oberen Stockwerken.
Die fünf taghellen Sammlungsräume sind nach Nutzungsarten geordnet. Hier stehen die Fahrzeuge im Vordergrund. „Galerie der Reisen“ oder „Galerie der Helden“ heißen diese Abteilungen. Insgesamt sind auf den 16.500 Quadratmetern Ausstellungsfläche 160 Fahrzeuge zu sehen.
Der Museumsbesuch endet für alle Besucher mit dem Thema Motorsport an einer Steilwandkurve, die schließlich in eine senkrechte Wand übergeht, an der berühmte Rekordfahrzeuge montiert sind.
Die außergewöhnliche Architektur und das einzigartige Ausstellungskonzept verleihen dem Museum internationalen Rang. Für das Lokalkolorit sorgt die Gastronomie mit ihren leckeren schwäbischen Spezialitäten.

110.000 Tonnen

Der holländische Stararchitekt Ben van Berkel mit seinem Amsterdamer Büro „UN Studio“ hat das Gebäude entworfen. Er setzte sich in einem internationalen Architekturwettbewerb gegen neun Konkurrenten durch. Sein städtebauliches Konzept für das gesamte Areal, zu dem auch das benachbarte Mercedes-Benz Center gehört, überzeugte den Automobilkonzern.
In den zweieinhalb Jahren Bauzeit, bis zur Eröffnung im Mai 2006, wurden 110.000 Tonnen Stahl und Beton verarbeitet. Der Museumsbau ruht auf 850 Betonpfeilern, die für die feste Gründung sorgen. Beton ist in dem Bau überall sichtbar. Seine Oberfläche ist aber ganz fein und glatt, sie wirkt fast wie Marmor. Die Verschalungen für den hochfesten Spezialbeton wurden extra mit Kunststoff beschichtet, um die glatte Oberfläche zu erzielen.
Die Geometrie des 150 Millionen Euro teuren Baus ist so komplex, dass die verschlungenen Ebenen nur dank 3D-CAD-Technik realisiert werden konnten. Ohne Stützen überspannen die Decken und Böden der einzelnen Räume 33 Meter Distanz. Das ist mehr als die Breite einer Autobahnbrücke.

Jürgen Patner, erschienen in DriveIn